\( \newcommand{\equiv}{\sim} \newcommand{\boxop}{\mathbin{\Box}} \)

Grassmann-Krantz-Gesetze und Additive Farbmischung

2024-05-24 Volker Schubert @ farben.volker-schubert.org

Wir untersuchen abstrakte Eigenschaften des Farbsehens beim Menschen, zum Beispiel die Frage, wann zwei Lichtreize gleich erscheinen. Dabei müssen wir zwischen menschlichen Farbempfindungen, auch Farbvalenzen genannt, und den physikalischen Reizen (auch Stimuli genannt), also dem Licht, das in die Augen fällt, unterscheiden. Die Farbstimuli kommen von einem Versuchsaufbau, z.B. von LEDs in einem verdunkelten Raum.

Die bei einem Farbreiz S von einem Menschen wahrgenommene Farbe ist natürlich etwas Subjektives, und wir können niemals die Farbempfindungen von zwei Menschen vergleichen. Wir konzentrieren uns also auf eine einzige Versuchsperson, bei der wir durchaus fragen können, ob zwei Farbreize gleich aussehen.

Additive Farbreizmischung

Additive Farbreizmischung ist die Überlagerung von Licht mehrerer Lichtquellen bzw. Leuchtpunkte. Am besten sollten sich die Strahlen beim Auftreffen direkt überlagern wie bei zwei Scheinwerfern. Aber auch wenn es sich um kleine Leuchtpunkte handelt, die nahe beieinanderliegen, entsteht bei genügender Entfernung des Beobachters eine additive Farbreizmischung. Die additive Mischung zweier Farbreize \(S,T\) schreiben wir einfach als \(S+T\), auch wenn es sich weder um Zahlen noch um Vektoren handelt.

Außer dass sich bei additiver Farbreizmischung ein neuer Farbton ergibt, erhöht sich auch die Intensität des Lichts.

Gleiche Farbempfindungen

Nun kann es passieren, dass die Versuchsperson bei unterschiedlichen Farbreizen \(S_1\) und \(S_2\) dieselbe Farbe sieht. Wissenschaftlicher ausgedrückt bedeutet das, dass trotz verschiedener Lichtspektren die beim Menschen hervorgerufenen Farbempfindungen gleich sein können. Diesen Effekt kennt jeder von Bildschirmen: Die Farbempfindung, die durch additive Lichtmischung eines Rotpunkts und Grünpunkts hervorgerufen wird (d.h. es ist gleichzeitig ein roter und grüner Lichtpunkt eingeschaltet), entspricht der einer gelben LED – zumindest wenn viele Lichtpunkte zusammenwirken, und das Ganze aus größerer Entfernung betrachtet wird:

Wenn zwei Farbreize \(S_1\) und \(S_2\) bei einer Versuchsperson dieselbe Farbempfindung auslösen, dann schreiben wir \(S_1 \equiv S_2\) und sagen, \(S_1\) und \(S_2\) seien „farbgleich“ (oder „metamer“). Für unser obiges Beispiel würden wir also schreiben: \(\text{Rotreiz} + \text{Grünreiz} \equiv \text{Gelbreiz}\).

Die Hoffnung ist, dass die Eigenschaft farbgleich zu sein, bei allen Menschen ungefährlich gleich funktioniert, d.h. wenn für eine Person A die Reize \(S_1\) und \(S_2\) farbgleich sind, dann auch für jede andere Person B. Im Großen und Ganzen stimmt das auch.

Intensität

Bisher haben wir Farbreize nur addiert, also z.B. zwei LEDs gleichzeitig eingeschaltet. Komplizierter wird es, wenn man auch die Helligkeit der Farbpunkte berücksichtigen will. Viele Lampen bzw. Farbpunkte kann man in der Helligkeit steuern, indem Ihnen unterschiedlich viel Energie zuführt, also die Stromstärke regelt. Es ist aber keineswegs gesagt, dass eine Lampe doppelt so hell leuchtet (im physikalischen Sinn), wenn man Ihr doppelt so viel Strom zuführt. Und es ist auch nicht klar, ob eine eine doppelt so helle Lampe (im physikalischen Sinn) von einem Menschen als doppelt so hell empfunden wird. Dennoch wollen für einen Farbreiz \(S\) und eine Zahl \(a\) den Farbreiz \(aS\) definieren, der im Vergleich zu \(S\) das exakt selbe Spektrum besitzt, aber \(a\)-mal soviel Leistung abgibt, was auch immer das für den benötigten Strom und für die empfundene Farbe bedeutet.

Aus physikalischen Gründen ist \(a(S+T) = aS + aT\).

Grassmann-Krantz-Gesetze

Das sind klassische Beobachtungen, wie sich Farbgleichheit beim Menschen gegenüber Veränderung verhält. Auch wenn Sie recht mathematisch daherkommen, handelt es sich nicht um reine Mathematik oder um physikalische Naturgesetze, sondern einfach um empirische Beobachtungen. Interessanterweise kann man aus diesen Beobachtungen eine mathematische Struktur für Farbvalenzen ableiten, die viel Ähnlichkeit mit der bekannten Struktur eines 3-dimensionalen Vektorraums hat.

Wem die exakte Formulierung zu mathematisch ist, kann auch gleich zur anschließenden Interpretation springen.

Grassmann-Krantz-Gesetze
  1. „Farbgleichheit wird bei Addition erhalten“:
    • Wenn \(S_1 \equiv S_2\) dann \(S_1+T \equiv S_2+T\) (für beliebige Stimuli \(S_1,S_2,T\))
    • Oder gleichwertig:
    • Wenn \(S_1 \equiv S_2\) und \(T_1\equiv T_2\) dann \(S_1+T_1 \equiv S_2+T_2\) (für beliebige Stimuli \(S_1,S_2,T_1,T_2\))
  2. „Farbgleichheit wird bei Intensitätsänderung erhalten“:
    • Wenn \(S_1 \equiv S_2\) dann \(a S_1 \equiv a S_2\) (für beliebige Stimuli \(S_1,S_2\) und Intensität \(a\))
  3. „Farbungleichheit wird bei Addition erhalten“:
    • Wenn \(S_1 \not\equiv S_2\) dann \(S_1+T \not\equiv S_2+T\) (für beliebige Stimuli \(S_1,S_2,T\))
    • Oder gleichwertig:
    • Wenn \(S_1+T \equiv S_2+T\) dann \(S_1 \equiv S_2\) (für beliebige Stimuli \(S_1,S_2,T\))
  4. „Dimension 3“:
    1. „4 Stimuli sind linear abhängig“:
      Für 4 beliebige Stimuli \(S_1,S_2,S_3,S_4\) gibt es Lichtstärken \(a_1,a_2,a_3,a_4\) und Lichtstärken \(b_1,b_2,b_3,b_4\) mit \[\sum_{i=1..4} a_i S_i \equiv \sum_{i=1..4} b_i S_i\;,\] aber \(a_i≠b_i\) für ein \(i\).
    2. „3 Stimuli können linear unabhängig sein“:
      Es gibt Stimuli \(S_1,S_2,S_3\), so dass gilt: Für Lichtstärken \(a_1,a_2,a_3\) und Lichtstärken \(b_1,b_2,b_3\) mit \[\sum_{i=1..3} a_i S_i \equiv \sum_{i=1..3} b_i S_i \] folgt \(a_i=b_i\) für alle \(i\).
  5. Gleichwertig dazu ist:
  6. „Dimension 3“:
    • Es gibt Stimuli \(S_1,S_2,S_3\), so dass gilt: Für jeden Lichtreiz \(T\) gibt es eindeutige Lichtstärken \(a_1,a_2,a_3\) und Lichtstärken \(b_1,b_2,b_3\) mit \[\sum_{i=1..3} a_i S_i \equiv T + \sum_{i=1..3} b_i S_i \] und \(a_i b_i=0\) für alle \(i\).
      Bem.: Eigentlich hätte man ja gern, dass alle \(b_i\) Null sind, aber das geht nicht so einfach. Aber zumindest ist \(b_i\) oder \(a_i\) gleich Null für jedes \(i\).

Interpretation

Eigenschaften (1) und (2) erlauben das Einführen von Operationen auf Farben, z.B. kann man dann zwei Farben additiv mischen, nicht nur zwei Farbreize. Erst dadurch macht der Begriff „additive Farbmischung“ Sinn, und man kann so etwas sagen wie Rot + Grün = Gelb. Die eingeführten Operationen sind, 1. Farben addieren, und 2. Farben verstärken und abschwächen. Außerdem sind die Operationen dann so definiert, dass das Addieren von Farbreizen zur selben Farbe führt wie das Addieren von Farben direkt (in der Sprache der Mathematik: Die Zuordnung \(C: \text{Farbreiz} \to \text{Farbvalenz}\) ist ein wohldefinierter Homomorphismus bzgl. Mischen und Verstärken. Die Operationen führt man durch Vertreter ein, etwa \(C(S)+C(T)≔C(S+T)\), und zeigt dann die Unabhängigkeit von der Wahl der Vertreter mittels (1) und (2), da \(C(S)=C(T) \iff S \equiv T\) .)

Eigenschaft (3) sagt, dass man zwei unterschiedliche Farben niemals gleich machen kann, wenn man eine weitere Farbe zu beiden mischt. (Mathematisch ist das die Kürzungseigenschaft. Oder in Operatorsprache: Der Endomorphismus \(\boxop+D\) ist injektiv für jede Farbe \(D.\))

Die gleichwertigen Eigenschaften (4) und (5) sagen, dass die Farben einen 3-dimensionalen Raum bilden. Tatsächlich ist es sogar so, dass man 3-er-Gruppen von Farben findet („Primärfarben“), mit denen man fast alle anderen Farben additiv mischen kann, wie zum Beispiel die bekannte Rot/Grün/Blau Dreiergruppe bei Bildschirmen. Allerdings gilt das nur fast: Man kann mit jedem Satz von Primärfarben nur einen bestimmten Ausschnitt aller Farben mischen. Erst wenn man negative Lichtstärken erlauben würde, könnte man alle Farben durch Mischung herstellen, was man zumindest rechnerisch auch wirklich macht. Ein anderer Weg ist, dass man eine kritische Farbe zuerst etwas unbunter macht, indem man Weiß dazu addiert. Ist die Farbe dann nicht mehr zu bunt, dann kann man sie doch mit den 3 Primärfarben durch Mischung herstellen. (Für die Mathematiker: Die Farbvalenzen bilden fast einen Vektorraum. Das Problem ist das Fehlen von Subtraktion und negativen Skalaren. Eine kritische Farbe muss man zuerst in den positiv aufgespannten Raum zurückholen, damit sie als Linearkombination darstellbar ist.)